Pfarrer und
Karate-dô

Ich habe als erstes Kind meiner Eltern, des Pfarrers Siegfried Schwemmer (Senior) und der Lehrerin Eleonore, geb. Meißner, früh gelernt zu kämpfen: Gegen die Enge in meinem Zuhause, gegen den Spott über meinen Glauben, gegen Angriffe gegen mich als Person.

Melanchton
und Luther

Von Bedeutung für mein Leben war und ist das Melanchthon-Gymnasium in Nürnberg. Das erste hu­ma­nis­tische Gym­nasium, das Phillip Melanchthon (1497-1560), der Freund und Begleiter von Martin Luther (1483-1546), 1526 in Nürnberg gegründet hat. Das Prinzip der Reformation ist die Notwendigkeit von Veränderungen. Den Kampf Luthers wertschätze ich. Die Reformation hat die Bildung geprägt, die Aufklärung ermöglicht und den Menschen Freiheit verheißen. Diese Freiheit ist mein Thema. Sie hat ihre Wurzeln im Geist der Griechen genauso wie in der Theologie des Paulus.

Als ich 1976 Abitur gemacht habe kam Alfred Heubeck an die Schule. Er war und ist Pädagoge, Humanist und Pionier des Karate in Deutschland. Er hat mich inspiriert Karate zu lernen und Karate als Lebenspraxis zu verstehen. Ich habe erfahren Karate entspricht meinem Leben.

Pfarrer und Karate: Es mag äußerlich als Gegensatz erscheinen. Für mich gehört es im Wesen zusammen. Es geht um das Ganze. Es ist größer als ich. Ich möchte nichts trennen und abspalten. Ich möchte offen sein für die Vielfalt des Lebens.

Ich habe Karate immer als Karate-dô, als spirituellen Weg verstanden. Das Einssein von Körper und Geist ist Ausdruck meiner Spiritualität. Den Weg, ohne Wenn und Aber gehen, die konsequente Übung des Wegs, die Verbindlichkeit …, sind Beispiel und Anleitung für die Nachfolge Jesu. Der Anspruch Jesu ist radikal. Es gibt keine billige Gnade (Bonhoeffer). Es geht im Christsein, wie in den Kampfkünsten, um Leben und Tod.

Hinter allen äußeren Erscheinungen steht die Frage nach der einen, der letzten Wirklichkeit. Sie ist, das ist meine Überzeugung, uns Menschen nicht verfügbar. Sie ist allein eine Glaubensentscheidung und als solche Voraussetzung für unsere Lebenspraxis, für unsere Haltung und unser Handeln.

Für mich ist die letzte Wirklichkeit die Christuswirklichkeit (Bonhoeffer). Sie ist größer als meine Grenzen. In ihr ist die Fülle des Lebens (Johannes 1,16). Sie begründet mein Leben, mein Denken und mein Handeln.

Ich mag nichts Halbes. Ich möchte das Ganze. Ich liebe das Leben, das mir gegeben ist, in seiner Fülle und Vielfalt. Ich suche das We­sent­liche und das Authen­tische. Ich weiß: Das Leben will gelebt werden, mit Leib und Seele, un­mit­tel­bar, ganz und jeden Augenblick.

Deshalb ver­bin­den sich in meiner Person: Kampfkunst, Spi­ri­tu­alität und Seelvsorge, meine Berufung als Geist­licher und der eine Weg in der Gestalt des Karate-dô.

Nürnberg, 21. Februar 2021
Siegfried J. Schwemmer